Die Praxis des Lebens oder „tatood tears“ 1983

Bleidreieck, Altöl, Fotos von Stromtoten, 3 Videomonitore verbunden durch stromführende Drähte, Videobänder (Ausschnitte: Hyperbulie, Nashorn, Menschenfrauen)

Frank Wagner: Zur Ausstellung
(Maschinenhaus, Kiel. Ohnmacht. Zur Einhundertjahrfeier der Muthesius-Kunsthochschule, 17.05.2007 – 09.06.2007)
(...) So war im Hauptsaal die großartige Installation der weltbekannten österreichischen Medienkünstlerin VALIE EXPORT aus dem Jahr 1983 zu sehen, die sich mit Elektrizität als Metapher von Macht und Kontrolle bis hin zum Verlust des Lebens auseinandersetzt. Ständig fasst eine Frau ENTSCHIEDEN – aus Verzweiflung, weil sie die Verhältnisse nicht erträgt – in die Oberleitungen eines Hochspannungsmastes. Die Künstlerin nennt diese Arbeit in voller Härte „Die Praxis des Lebens oder „Tatood Tears“.
Es handelt sich bei dieser Installation um ein Tableau der starken Bilder. Sie besteht aus zwei Monitoren, die links und rechts an einem Ende einer dreieckigen Stahlwanne aufgestellt sind. Die Wanne ist mit Altöl gefüllt, auf der Flüssigkeitsoberfläche und über die Begrenzungen der Wanne hinaus sind Fotovergrößerungen von Personen, die durch Stromschläge ums Leben gekommen sind, verteilt. Das Material recherchierte die Künstlerin im Elektropathologischen Museum in Wien. Der eine Monitor zeigt eine knapp geschnittene Sequenz einer Traum- oder Selbstmordszene. Eine Frau greift immer wieder mit beiden Händen an eine Starkstromleitung. Die Künstlerin integriert Szenen aus ihrem 1979 entstandenen Film „Menschenfrauen“, in dem eine der vier weiblichen Hauptdarstellerinnen auf einen Hochspannungsmast steigt, um sich das Leben zu nehmen. Auf einem anderen Monitor sieht man die Profilaufnahme eines Nashornkopfes, der fast unbewegt den Betrachter anschaut und nur ab und zu reflexartig das Auge schließt. Es ist die Kreatur, die das Treiben des Menschen nicht versteht, ihm unverwandt gegenüber steht.
Der Strom, die Elektrizität war für VALIE EXPORT immer Material und Energie, ja Metapher für eine Macht, die sie in ihrer künstlerischen Praxis häufig eingesetzt hat. Der Strom ist immaterieller Teil der Materie, eine Energieform, die einerseits als Metapher für technischen Fortschritt und als strukturierende Kraft unseres Lebens gelten kann, andererseits ein Bild für strukturelle Gewalt ist. Die Berührung mit Todesfolge kann so in „Tatood Tears“ als direkter Effekt gesellschaftlicher Machtmechanismen gelesen werden, an denen das Individuum letztendlich zu Grunde gehen kann. VALIE EXPORT bringt selbst die „Tatood Tears“ – die Verbrennungen – in Verbindung mit dem „Wärmetod“. Der gesellschaftlich vermittelte Zwang, unausgesprochene und unaussprechliche Gefühle zu unterdrücken, übersetzt VALIE EXPORT in das metaphorische Bild der Hochspannung, das durch Verschränkung von Leben, Leiden, Schmerz und Leidenschaft im Tableau assoziiert wird.
(Zitat aus: Frank Wagner: Zur Ausstellung, in: Petra Maria Meyer (Hrsg.): Gegenbilder. Zu abweichenden Strategien der Kriegsdarstellung, Wilhelm Fink Verlag, 2009, S. 500f.)